Fiktiver Brief an einen heimkehrenden Menschen, oder die Erinnerung an Sommer. [by occ]

Laub

Ich kann dich nur willkommen heißen, hier im schleichenden Herbst.
Während du weg warst, gab es im Südwesten Deutschlands eine Volksabstimmung, ob wir nicht gleich in die Jahreszeit des Herbstes wechseln mochten.

Hatten dann praktischerweise alle zugestimmt.

Also, wundere dich bitte nicht, falls du den Sommer hier erwartet hattest.
Warum wir das so beschlossen hatten?
Schau, wir waren der unendlichen Sehnsucht müde,
mit der wir morgens aufwachten und erwarteten, dass ein warmer Wind zwischen den Spalten der schaukelnden Gardinen in unsere Zimmer zog.
Nachts schlafen, bei allen geöffneten Fenstern,
so dass wir immer den Puls der Städte mit in unsere Träume nahmen,
die Hoffnung darauf, der wollten wir uns nicht mehr aussetzen.

Das Gefühl, das uns befallen könnte, wenn wir die ersten Schritte aus den Häusern machten und feststellten, dass die Zimmer ja viel mehr kühler waren als die der Welt draußen, dass man den Eindruck hätte bekommen können, der Tag sei schon weit fortgeschritten ob seiner warmen Luft und der Helligkeit der Sonne.
Naja, und dann die Menschen. Leicht bekleidet und sorglos sich begegnen müssten, immer ein Blinzeln im Gesicht tragend, das war nicht mehr auszuhalten.
Und um die Mittagszeit: über den Feldern weit draußen vor den Städten,
da würde die Luft so voller Wärme flirren, dass selbst die Grillen in ihrem Reigen inne gehalten hätten um sich für den Abendchor genug Lebenskraft zu erhalten.
In den Städten flüchteten die Menschen aus den Büros auf beschattete Plätze, zu den Brunnen. Sie fingen an sich zu begegnen, ihre Pausen dort zu verbringen, wo sonst nur Tauben ihren Aufmarsch probten.
Die Kellner kämen nicht nach, den Menschen ihre Wünsche zu erfüllen.
Die Nachmittage kühlten nicht mehr ab, die Bäder füllten sich, als wären sie eine Kopie der Urlaubsfotos mediterraner Strände

Die Abende, ja die Abende wären noch schlimmer.
Dort stiegen die Rauchsäulen menschlicher Kultstätten auf, Grillabende trieben Düfte durch die Straßen und Wohnblocks, denen man nicht mehr Herr würde.
Die Gärten, in denen man auf Holzbänken und unter Schirmen säße,
sie würden lauter und dort wie überall begännen sich die Menschen einander anzuschauen, zueinander sich drängend die Lebenslust und Freude zu genießen, die ein lauer Sommerabend versprühen würde.
Wenn die Sonne dann endlich ihren Platz aufgäbe,
spendeten Laternen und Fackeln ihr unruhiges Licht den Menschen eine Atmosphäre, die sie nicht nach Hause ziehen ließe,
die sie weiter im Reigen der Grenzenlosigkeit miteinander tanzend verbinden würde.
Über den Ebenen breitete sich der Gesang der Grillen aus,
die Boote in den tausend Häfen schaukelten leicht über die warmen Wellenkämme. Die Seen glitzerten im fliehenden Licht der Straßencafes,
die Berge spendeten kühle Winde im Purpurrot der untergehenden Sonne. Das Land könnte dann nicht einschlafen.

Nun, ich muss dir diese Bilder so vor dein Wesen stellen,
weil diese uns in unseren Herzen verfolgen,
sie sind eine Erinnerung an eine Jahreszeit,
die wir Sommer nannten.
Wir sind noch längst nicht davon geheilt.
Dann und wann lösen plötzliche Lichtstrahlen der Sonne,
die sich durch die schützende Wolkendecke ihren Weg zu uns erkämpfen,
ein quälendes Gefühl der Sehnsucht aus.
Wir empfinden leichte, versteckte Euphorie,
wenn ein plötzliches Kontinentalhoch das Quecksilber
in den Säulen emporsteigen lässt.
Wir sind noch dabei, die physischen Erinnerungen zu ordnen,
die Stühle und Tische der Cafés auf den Plätzen der Stadt zusammen zustellen,
sie mit einer durchsichtigen Folie zu verstecken,
wie eine Warnung an alle, dass sie vielleicht doch noch mal zum Einsatz kommen müssten.
Die Krämer versuchen ihre Lager von diesen Erinnerungen zu befreien,
die Menschen kommen wieder zu sich und gehen ihre eigenen, schmalen Wege.

Du Heimkehrer aus der Ferne mit dem Überfluss an fremder Jahreszeit,
frage nicht nach dem, was wir hier nicht erlebt,
erzähle nicht von dem, was du hast so lange genießen dürfen.

Behalte deine Erinnerungen in dir, denn sie sind deine Sonne,
die wir nicht kennen.

[by occ]

Sonnenuntergang

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