Zivilcourage im Morgengrauen

Da ich die letzten Wochen Urlaubsvertretung gemacht habe, musste ich vor Ort sein und konnte nicht aus dem Homeoffice arbeiten. (Zwischendurch ist es aber auch wirklich toll, die Kollegen mal live zu treffen. Zumindest meine, denn die sind super! :)) Der Arbeitszeitbeginn passte so in etwa mit dem von meinem Mann, so dass wir immer zusammen fuhren. An diesem Tag musste er jedoch eine Stunde früher anfangen, so dass wir getrennt fuhren. Mein Bus hatte einige Minuten Verspätung, so dass die Straßenbahn (natürlich?) grade weg war. Es war zwar dunkel, aber zumindest noch halbwegs warm und es regnete nicht, also alles halb so wild. Ein Mann von der Straßenreinigung fegte den Gehsteig und ich genoss die Ruhe. – Bis die ankommende Straßenbahn einen älteren Herrn mit Gehstock ausspuckte. Schon beim Aussteigen redete er irgendetwas daher und pöbelte jeden an, der in seine Nähe kam. Ich schickte daher jede Menge Stoßgebete, dass er weiterzieht. Tat er. Zumindest ein Stück. Denn nun hatte er den Mann von der Reinigungsfirma entdeckt. Und ab da nahm mein Morgen eine überraschende Wendung…

(Beispielfoto)

Einer wie Keiner

Der Mann von der Straßenreinigung, sinngemäß komplett in Orange gekleidet, war, zumindest optisch, ein junger Mann mit Migrationshintergrund. Zum Fegen benutzte er einen „alten“ Besen. (Also in etwa so wie diese gebunden Besen, die man dekoriert vor die Tür stellt.) Ich weiß nicht was dieses Bild beim Mann mit Stock auslöste, aber auf einmal begann er zu schimpfen. Erst vor sich hin, dann pöbelte er den arbeitenden Mann an: „Ey! Nimm gefälligst Handfeger und Schaufel! Das ist ja wie im Mittelalter!“ Er wurde ignoriert. Und das schien ihm so gar nicht zu passen, denn das Geschimpfe wurde nicht nur lauter, sondern er rückte auch immer näher heran und ließ so ziemlich jede Beleidigung gegen „Ausländer“ fallen, die er kannte. (Von Mindestabstand keine Spur!) Schließlich sagte – und das in einem recht freundlichen Ton, wofür ich ihn wirklich bewundere – der Reinigungsmann: „Oh komm, geh weg, ich muss arbeiten!“ Die Antwort? Ein Gehstock vor dem Gesicht des Arbeiters und weiteres Geschrei. Ich sah mich um und stellte fest, dass ich komplett alleine auf dem Bahnsteig stand. (Auf der anderen Seite standen zwar an die zehn Menschen – auch Männer – aber die eine Hälfte war ins Smartphone vertieft, die anderen beobachten einfach nur.) Verdammt!In Gedanken spielte ich kurz meine Möglichkeiten durch:

  • Polizei rufen. Bis die hier sind, ist das eskaliert.
  • Dazwischen gehen? Nicht selbst in Gefahr bringen! Wenn es blöd läuft, bekomme ich eine übergezogen.

Herz gegen Verstand

Nachdem der Arbeiter inzwischen in eine Ecke gedrängt wurde und er bereits mit dem Besen, den Stock abwehren musste, setzte bei mir irgendwas aus (oder ein): Ich ging hin, stellte mich in die Nähe, aber außer Stocklänge, aufrecht hin, versuchte groß und selbstbewusst auszusehen und sagte, in einem sehr lauten und bestimmten Ton, der keinen Widerspruch duldete: „LASSEN SIE DEN MANN IN RUHE!“. Der alte Mann drehte ich um, war offenbar im ersten Moment überrascht, dass er von seiner Tat abgehalten wurde – von einer Frau – und kam nun auf mich zu. Er wetterte und stand schließlich dicht vor mir, was mir einfallen würde. Eine ganze Triade an Schimpfwörtern prasselte auf mich nieder, wobei Schnepfe noch mit das harmloseste war. Ich blieb stehen und wiederholte meine Forderung, dass er den Mann in Ruhe lassen soll und am besten nach Hause gehen. Die Folge? Der Gehstock schwang in Richtung meines Kopfes! Glücklicherweise hatte ich aber rechtzeitig einen Besen vorm Gesicht, da der Reinigungsmann blitzschnell reagiert hat! (Wir haben uns damit wohl irgendwie gegenseitig gerettet.) Als ich mit der Polizei drohte, passierte etwas, mit dem ich absolut nicht gerechnet hatte: Der alte Mann fing auf und ab zu hüpfen und dabei immer wieder „Polizei-Polizei-Polizei“ vor sich hinzu trällern. Kurzer Gedankenblitz in meinem Kopf: „Vermutlich geistig behindert. Kann in so einer Situation gefährlich werden.“

Bald verschwand der Pöbler und jeder konnte wieder dort weitermachen, wo er aufgehört hatte. Doch dann, ich war noch immer alleine am Bahnsteig, kam der alte Mann zurück. Der Arbeiter war längst weitergezogen und ich warf einen Blick auf die Anzeigetafel. Verdammt, noch immer mehrere Minuten, bis die rettende Bahn eintreffen würde. Und ja, er kam auf mich zu und beschimpfte mich auf Übelste. Ich tat das, was ich gelernt habe: Ignorieren! „Was? Häh? Bis du auf einmal ganz still geworden?“ Leider brachte das keinen wirklichen Erfolg. Irgendwann erbarmte sich ein Mann vom gegenüberliegenden Bahnsteig und rief ein „Jetzt hör mal auf!“herüber. Wettert, dass man mich windelweich prügeln, einsperren und den Schlüssel wegwerfen sollte und irgendwas was davon, wenn ich seine Frau wäre, dann… verzog er sich und endlich – nach gefühlten Stunden – kam auch meine Straßenbahn.

Funktionsfähig

Hatte ich Angst? Komischerweise nicht. Ich funktionierte einfach und legte den Fokus auf dieses eine „Problem“, welches es zu lösen galt und blendete alles andere aus. Gefühlt habe ich dabei einfach nichts. Allerdings muss ich zugeben das, als ich dann schließlich in der Straßenbahn saß, mein Herz bis zum Hals schlug und mein Körper gezittert hat. Und trotzdem: Es fühlte sich richtig an und, auch wenn es vielleicht einfach total dumm war, ich würde es wieder genau so machen! – Und ich hoffe WIRKLICH das es solche Situationen nicht mehr geben wird und wir einfach alle FRIEDLICH miteinander leben können.

Sollte jemand von euch einmal in so eine ähnliche Situation kommen. Steht nicht nur herum und seht zu, sondern greift ein. Holt euch Unterstützung oder ruft die Polizei. Aber seht bitte nicht einfach weg! (Glaubt mir, es fühlt sich fantastisch an!)

1 Gedanke zu „Zivilcourage im Morgengrauen“

Schreibe einen Kommentar